2.4.1 Die TänzerinDie Bezeichnung Tänzerin irritiert auf den ersten Blick. Nichts an ihr scheint zu tanzen.. Notwendig wird also die Beschäftigung mit dem Phänomen „Tanz“ zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Gerade begann sich der Schau-Tanz aus den Niederungen der Amüsierbetriebe zu einer anerkannten Form der Hochkultur zu entwickeln. „Es darf nicht außer Acht gelassen werden, daß um die Jahrhundertwende der Tanz sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst als Ausdruck gesteigerten Lebensgefühls, als Lebenssymbol verstanden sein wollte.“ 19 Schon auf den ersten Entwürfen von Klimt ist eine Tänzerin am See zu erkennen. „In diesem Jahr war es das erste Mal, daß die Familie Flöge und Klimt die Oleandervilla in Kammerl bei Kammer am Attersee bewohnten. Das Erleben der Landschaft mit dem See muß so stark gewesen sein, daß es sich auch auf die Gestaltung von zwei der kleinen Entwürfe ausgewirkt hatte. Insbesondere die Darstellung der „Tänzerin“ vor einem Gewässer ... läßt die Atmosphäre der Atterseelandschaft fühlen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die parallel zum See stehenden Bäume, die bereits damals wie heute horizontal gekappt wurden, und damit eine wesentliche Anregung für den geraden Abschluß der „Lebensbäume“ vermitteln. Wenn man noch dazu weiß, daß Emilie Flöge des öfteren im Garten...tanzte, kann man sich vorstellen, daß Klimt davon nicht unbeeindruckt blieb." 20 Klimt hat aus diesen Natureindrücken eine maximal stilisierte Figur geschaffen.
Die Füße der Tänzerin sind bedeckt, das hauptsächlich mit Dreiecken verzierte Kleid fließt herab. Ihre Silhouette ist leicht gebogen und entspricht einem gestreckten A. Sollte sie sich bewegen, so wäre höchstens ein Schreiten denkbar. Der erste Eindruck ist der einer edlen Erhabenheit. Das Tänzerische erschließt sich erst bei näherer Analyse. Der Blick der jungen Frau geht über ihre linke Schulter, das Gesicht zeigt sich dem Betrachter in einer dreiviertel Vorderansicht. Die Schultern zeigen nach vorne. Die Handfläche und Fingerspitzen der linken Hand stützen den rechten Unterkiefer, die Fingerspitzen der rechten Hand zeigen ebenso nach vorne. Die Unnatürlichkeit dieser Position fällt jedoch, wie bei jeder perfekt beherrschten Kunstform, nicht auf. In der Gestaltung der Figur mischen sich ägyptische mit asiatischen Elementen. Die Position der nackten Arme und der seitlich gedrehte Kopf bei Frontalhaltung der Schultern erinnern an ägyptische Reliefs. Weitere Anklänge sind die goldenen Dreiecke, die auch als Pyramiden gedeutet werden können sowie die Augensymbole. Diese können als Adaption des mächtigsten Amulettes des antiken Ägypten gedeutet werden, als das Horusauge. Allerdings auch als Symbol des christlichen dreieinigen Gottes, da die Augen jeweils in Dreiecke gebettet sind. Doch diese Frage näher zu beleuchten, ist nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Auffällig ist der Schmuck der Tänzerin. Sie trägt goldene Armspangen oder -ketten. Den linken Oberarm schmückt ein edelsteinbesetzter Reif sowie eine goldene Spange, die in eine Spirale mündet. Diese wiederholt die Ornamentik des Lebensbaumes. Unterhalb der Hände ist durch goldene Linien ein angedeuteter Ringkragen zu sehen, ein eindeutiger Hinweis auf ägyptische Traditionen. Eher japanisch mutet die Steckfrisur an, sowie die Farbgestaltung des sonst europäischen Gesichtes. Es dominieren ein hochroter Mund und tiefschwarze Brauen und Augenumrandung vor einer weißen Gesichtsfarbe mit leicht rötlichen Wangen. Der Gesichtsausdruck ist unbeteiligt, maskenhaft. Nichts ist ablesbar als eine gewisse Überheblichkeit und Souveränität. Inwieweit dieser Eindruck im Spiel von Kerzen- oder Naturlicht variiert, ist nicht sicher. Auf ihrem Kleid fallen als erstes die nach oben gerichteten Dreiecke mit Spirallinienverzierungen auf. Den Untergrund bilden farbig quergestreifte Dreiecke. Braehm interpretiert diese Musterwahl: „Die aufstrebende Form mit der Spitze nach oben steht für das aktive Lebensprinzip des Feuers, der Wärme, ... , das Männliche, die Welt des Geistes, für Macht, Herrschaft und Weisheit. Das Zeichen assoziiert das Bild des Berges ... Im Gegensatz dazu verkörpert ein Dreieck, dessen Spitze nach unten zeigt, das lineare, weibliche Lebensprinzip, das Wasser, die Kälte, das Passive, das Gefühl und die Große Erdmutter, die Erzeugerin alles Lebendigen ist. Dieses Zeichen assoziiert stark mit dem weiblichen Schoß... der Höhle.“ 21 Nach diesem Interpretationsansatz enthält das Kleid der ansonsten sehr femininen Tänzerin sowohl männliche als auch weibliche Elemente. |